Ja wo fang ich an? Das Gesetz war schon länger im Gespräch und heute kam anscheinend der Durchbruch, indem sich CDU/CSU und SPD einigen konnten. Es steht noch nichts konkretes fest, jedoch habe ich mir das Ergebnispapier der Konferenz "Globale Lieferketten - Globale Verantwortung" durchgelesen. Zusammengefasst wird gefordert, dass Unternehmen in Deutschland, später dann in der gesamten EU, die Verantwortung über die gesamte Lieferkette hinsichtlich der Menschenrechte übernehmen müssen, denn "Menschenrechte in Liefer- und Wertschöpfungsketten dürfen nicht an den Außengrenzen der EU enden."
Wenn man kaum bis gar keine Ahnung von Supply Chain Management hat, scheint dieser Gesetzesentwurf auf den ersten Blick sehr gut. Je mehr man darüber nachdenkt, desto unrealistischer wird eine Umsetzung. Man könnte recht viel dazu schreiben, ich möchte mich jedoch auf einige Punkte beschränken.
Der Schutz von Menschenrechte, im Papier sehr häufig mit Kinderarbeit verbunden, gehört zum sozialen Ansatz der Triple Bottom Line, also dem Drei-Säulen-Modell zur Erreichung von Nachhaltigkeit in privaten als auch in öffentlichen Organisationen. Die beiden anderen Säulen sind Wirtschaftlichkeit/Ökonomie und Ökologie. Alle drei Säulen müssen im Einklang zu einander sein, um eine langfristige Wettbewerbsfähigkeit einer Organisation sicherzustellen. Mögliche Nebeneffekte einer Nichteinhaltung könnten somit Pleiten und eine erhöhte Arbeitslosenquote sein. Deswegen macht es grundsätzlich wenig Sinn, sehr große und sehr drastische Maßnahmen unverzüglich einzuführen. Das gilt für die Säule Soziales, als auch für die Säule Ökologie. Auch sollte erwähnt werden, dass bestimme ökologische und soziale Maßnahmen langfristig nicht immer schädlich sind für die ökonomische Seite. Ich konnte selber in meiner Bachelorarbeit feststellen, dass beispielsweise Maßnahmen zu einer ökologischeren Beschaffung die Unternehmensleistung langfristig sogar verbessert als verschlechtert. Auch ist der generelle Trend, vermutlich auch wegen erhöhter öffentlicher Wahrnehmung, dass Unternehmen zuerst ökologische Standards umsetzen als soziale.
Nichtsdestotrotz handelt es sich bei den Maßnahmen des Lieferkettengesetzes um einen sehr großen Eingriff und ich möchte jetzt auf betriebswirtschaftlicher Ebene das ganze ein wenig beleuchten.
Ich persönliche finde den Begriff "Lieferkette" oder auch "Supply Chain" eine krasse Verniedlichung des eigentlichen Systems. Man darf sich dahinter keine Kette vorstellen, die von Anfang beispielsweise bei einem Rohstoffgewinner anfängt und bei einem Konsumenten in Zentraleuropa endet. Eine Supply Chain ist eher ein gewaltiger Stammbauen mit extrem vielen Verzweigungen. Als Beispiel lässt sich BMW heranziehen. BMW ist in diesem Beispiel der OEM (Original Equipment Manufacturer). BMW bringt somit seine Produkte selbst in den Einzelhandel. BMW ist in der Zulieferpyramide ganz oben. Darunter kommen nun die ganzen Zulieferer. BMW besitzt ungefähr 12.000 Tier-1 Zulieferer, also Zulieferer mit denen BMW direkte Lieferverträge besitzt. Jeder dieser 12.000 Tier-1 Zulieferer hat nochmal eigene Tier-1 Zulieferer, die aus Sicht von BMW dann Tier-2 Zulieferer sind. So langsam sollte man merken, dass hinter dem Begriff Lieferkette in Wahrheit ein gewaltiges Konstrukt steht mit zigtausenden von Lieferanten und Zulieferern.
Eine Teilaufgabe des Supply Chain Managements und des Beschaffungsmanagements ist es, diese Komplexität zu analysieren, damit eine einwandfreie Versorgung sichergestellt werden kann. In Zeiten ohne Disruption macht man das mit Kennzahlen und Performance Indikatoren. Nach den neusten Erkenntnissen von Prof. Dr. Yossi Sheffi in seinem neuen Buch "The New (Ab)Normal: Reshaping Business and Supply Chain Strategy Beyond Covid-19" haben große Konzerne höchstens noch den Überblick über die Tier-2 Lieferanten. Es sind zwar aktuell bestimmte IT Applikationen in Entwicklung wie Resilinc die eine vollständige Supply Chain anschaulich machen könnten, jedoch hat kaum ein Unternehmen die komplette Supply Chain im Überblick. Auch ist es meistens so, dass Tier-1 Zulieferer gegenüber ihrem OEM keine Auskunftspflicht besitzen, welche eigenen Tier-1 Zulieferer sie besitzen und für manche Unternehmen gelten solche Informationen teilweise sogar schon zum Betriebsgeheimnis. Ich möchte ein kurzes Beispiel nennen, was sowas zu folge hat: 2012 ist ein Evonik Werk in Marl explodiert. Dieses Werk hat den Stoff CDT produziert. Aus diesem CDT werden noch drei weitere Chemikalien hergestellt. All diese Chemikalien lassen sich auf keiner Bill of Materials (BOM) von irgendeinem Autohersteller wiederfinden. Doch aus diesen Chemikalien lässt sich PA-12 herstellen, eine Art Plastik um leichtere Autoteile zu bauen. Das Evonik Werk war weltweit für 40% der CDT Produktion verantwortlich und die Explosion sorgte dafür, dass teilweise die komplette Produktion vieler Autowerke komplett zu erliegen kam. Ein weiteres Problem in diesem Beispiel ist ein Diamond Cluster, aber das hat nichts mit dem Thema zutun.
Während der Corona Pandemie mussten Unternehmen und deren Supply Chain Manager eine sogenannte "Whack-A-Mole Supply" und Whack-A-Mole Demand" managen. Wie konnten Unternehmen es schaffen, dass für den Ottonormalverbraucher in den Supermärkten im Höhepunkt von Corona kaum Supply Shortages vorgefunden werden konnten? (Es gab übrigens nachweisbar keine Disruption im Toilettenpapiersupply. Regale werden in der Nacht aufgefüllt und die meisten Bilder in Medien wurden kurz vor Ladenschluss geschossen. Am nächsten Tag waren alle Regale wieder voll.) Es gab sehr viele Maßnahmen doch eine der wichtigsten Voraussetzungen für Supply Chain Managern war eine gewisse Flexibilität. Es gelang Unternehmen extrem schnell durch schnelle Entscheidungen Disruptionen entgegenzuwirken. General Mills konnte beispielsweise innerhalb von 24 Stunden mehrere Lieferanten ersetzen, da die Werke der vorherigen Lieferanten in Asien ausgefallen sind. Diese Flexibilität war ausschlaggebend weshalb wir bei Edeka noch alles so vorgefunden haben wie es auch vor Corona war.
Nun komme ich zurück auf dieses Gesetze und frage mich, wie soll so etwas umgesetzt werden? Die deutsche Gesetzgebung für öffentliche Beschaffer hat im Vergaberecht selbst noch sehr viele Gesetzeslücken zum Umgang mit ökologischen und sozialen Standards. Das öffentliche Beschaffungsvolumen beträgt circa 11% vom BIP und im Vergaberecht sind bei solchen Standards immer noch "Kann-Kriterien" vorgegeben. Wie sollen Unternehmen, die selbst schon recht angeschlagen sind nun die gesamte Supplychain überwachen und soziale Standards durchsetzen? Und wenn es durchgesetzt wird, wie soll in Zukunft auf Disruption reagiert werden? Heute ist es möglich durch extrem fleißige Supply Chain Manager Substitute für Lieferanten zu finden. In der Zukunft müsste man dann erstmal bürokratische Hürden abarbeiten und dann ist es meistens schon zu spät und im Laden kann man sich nicht mehr seine Lieblingscornflakes kaufen. Der Ansatz zum Schutz der Menschenrechte ist richtig und wenn ausgereifte Technologien wie Resilinc verfügbar sind, wird die Nachverfolgung der Supply Chain vereinfacht. Aber jetzt und vor allem während Corona hindert man ein erneutes Durchstarten zahlreicher Unternehmen nach der Pandemie.
TL;DR: Nach dem Gesetz übernehmen deutsche Unternehmen die Verantwortung über die gesamte Supply Chain. Durch extreme Komplexität der Supply Chain haben auch die größten Unternehmen kaum einen Gesamtüberblick über ihre Supply Chain. Außerdem sorgen solche Gesetze für eine verringerte Flexibilität zur Sicherstellung des Nachschubs. Der Gesetzesentwurf ist an sich gut, jedoch real nicht umsetzbar.